The Camel King

© Erschienen in Allegra

Das Leben Khawars I. war sehr ruhmvoll gewesen, als der Tod ihn mit nur 25 Jahren seiner Herde für immer entriß. Khawar I. hatte als eines der erfolgreichsten Rennkamele einen Wert von rund drei Millionen Mark erlaufen. Später als Zuchtbulle wurde Khawar I. schier unbezahlbar, denn er verrichtete seinen Job sechs bis achtmal am Tag. „Er hat“, sagt sein Arzt Dr. Ulrich Wernery, „bis zum Schluß gedeckt und ist bei der Arbeit verstorben“.

Vom Seziertisch weg kochte und bleichte Veterinär Wernery jeden einzelnen Knochen des Kamels. Im Gedenken an Khawars Produktivität setzte der Deutsche das Skelett dann in Deckstellung zusammen. Und so kniet der König der Kamele nun auf dem Parkplatz hinter Wernerys Labor in Dubai, das zum weltweit ersten Kamel-Großklinikum mit Hospital, physiotherapeutischen Swimming Pools und Embryo-Farm gehört.

Dubai – eines der sieben Vereinigten Arabischen Emirate, einer der teuersten Plätze der Welt. Öl und Handel machten die Beduinenfamilien unermeßlich reich. 85 Prozent Ausländer, in der Mehrzahl Inder und Pakistani, arbeiten für 15 Prozent echte Dubai-Araber. Selbst bei Sommertemperaturen um 48 Grad kann man auf zwei Eisbahnen Schlittschuh laufen.

Kronprinz Mohamed krönte nach dem Vorbild des Brandenburger Tors seinen Stadtpalast mit einer „Quadriga“, selbstverständlich mit fünf Pferden, einem mehr als in Berlin. Als Prämien für höhere Angestellte verschenkt er Autos und Rolexuhren. Und der Mann ist alleiniger Eigentümer des High-Tech-Klinikums, mit dessen Ausstattung sich kaum eine Uni-Kliniken (für Menschen) messen kann.

Wir stehen vor der Pforte des Kamel-Hospitals. Hinter uns warten in geräumigen, mit Stroh ausgelegten Boxen wiederkäuend die Patienten. Ein Beinbuch, eine überdehnte Sehne. Vor uns surrt leise ein Rolladen nach oben: den Kamelen öffnet sich ein scheunentorgroßer Eingang, der direkt in den Röntgenraum führt. Es riecht klinisch sauber, nach Antiseptika und Sagrotan. Eine Million Mark kostete alleine die Röntgenanlage, von der es angblich nur vier auf der Welt, davon aber gleich zwei in Dubai gibt. Mit stoischer Ruhe, eher gelangweilt, läßt eine Stute, die von drei Pflegern gehalten wird, das Röntgen über sich ergehen. Boden und Wände der Klinik sind mit grünem Gummi überzogen. Der Bodenbelag ist zusätzlich dem Paarhuf des Kamels angepaßt und trittweich wie Wüstensand. Der hydraulische OP-Tisch, eine Maßanfertigung mit Aussparung für den Höcker, hat die eineinhalbfache Größe einer Tischtennisplatte und trägt selbst die schwersten 700-Kilo-Kamele.

Im OP schneidet Chirurg Jehingar Akbar geblähte Bäuche auf, gipst gebrochene Läufe und schient überdehnte Sehnen. Alltagsroutine. Auf dem OP-Tisch liegt ein vierjähriges Kamel. Ein Anästhesist kontrolliert am Computer Atmung, Herz und Blutdruck. Der linke Vorderlauf des Tieres ist 28fach gebrochen, und nach dreiwöchigem Gipsverband hat Chirurg Akbar keine Hoffnung mehr auf Heilung. Er muß das Bein amputieren. Sein Assistent bereitet Messer, Säge und blutstillende Mittel vor, und wir werden vor die Tür gesetzt. Fotos von einer 3000-Dollar-Operation wie dieser will Akbar nicht zulassen, obwahl er stolz betont, daß man Kamelen keinen Gnadenschuß gebe. Selbst mit drei Beinen humple ein Kamel schneller als ein Mensch laufen könne.

Für die postoperative Physiotherapie stehen acht Rundschwimm-Anlagen und eine 50-Meter-Bahn zur Verfügung, geeignet auch fürs Softtraining als Alternative zur verletzungsträchtigen Sandbahn. Auf einem elektronischen Laufbahn wird man demnächst unter simulierter Rennbelastung Atmung und Blutwerte messen.

Allen Reichen und Noblen Dubais voran pflegt Seine Königliche Hoheit Kronprinz, Verteidigungsminister und General Scheich Mohamed bin Rashid al Maktoum, kurz Scheich Mo, die Tradition der Kamelrennen, die nicht unumstritten sind. Nicht wegen der Kamele, sondern wegen der sechs- bis achtjährigen Kinderjockeys, die mit Klettbändern hinter den Höcker geschnallt werden und bei Stürzen oft schwere Verletzungen erleiden. Die Kinder, meist Pakistanis oder Inder, ernähren mit dem Lohn von 400 Mark ihre Familien. Sie leben in Wüstencamps, wo man sie lesen und schreiben und den Koran lehrt – für den Tag, an dem sie als Jockeys zu schwer sein werden.

Scheich Mo besitzt rund 5 000 Rennkamele, von denen die teureren etwa fünf Millionen, die billigeren nur 100 000 Mark kosten. Spitzentiere fliegen im eigenen Jet zu Rennen in Bahrain, Qatar und Kuwait, wo sich die Siegesprämien bei großen Rennen auf fünf Millionen Mark belaufen. Bei kleineren gibt’s Pajeros, Bargeld und als Trostpreise Ford-Pickups. Um die 70 Milionen Mark, heißt es, gebe der Scheich jedes Jahr für seiner Kamele aus.

„Tausend Jahre“, so erklärt Scheich Mo Zweiflern immer wieder, „haben die Kamele uns durch die Wüste begleitet und unser Überleben gesichert. Jetzt, da wir sie eigentlich nicht mehr brauchen, weil es den Vierradantrieb gibt, sind Zucht und Forschung unser Dank an die Kamele.“ Acht Jahre liegt es zurück, seit Scheich Mo, ein stattlicher und gebildeter Araber, die Idee hatte, die Wissenschaft müsse sich des Kamels annehmen. Und so kreuzten sich via Kleinanzeige im Tierärzte-Blatt der Weg des Scheichs mit dem des Medizinerpaares Wernery.

„Gähnende Leere“ hatten Ulrich und Renate Wernery als Amtsveterinäre in Neumünster empfunden. „Irgendwann“, erinnert sich Ulrich Wernery, „fragten wir uns: soll’s das gewesen sein für den Rest des Lebens?“ Das Ehepaar fand Nein und ging 1974 erstmals ins Ausland. In Somalia bekämpften und erforschten der Mikrobiologe und die Virologin im Rahmen eines Entwicklungshilfeprojektes Rinderseuchen. Ein anderes Projekt – Schweine- und Hühnerkrankheiten – verschlug die beiden in die Pazifik-Monarchie Papua-Neuguinea, wo die Forschung aber nicht vorankam. Die Bodyguards, die die Testhennen vor Dieben schützen sollten, liebten ihre Schützlinge, aber nur gegrillt.

Wieder zurück im Veterinäramt las Wernery 1987 im Tierärzte-Blatt Scheich Mos Stellenangebot. Wernery schrieb und war engagiert. Die Kamelforschung konnte beginnen. „Wir hatten damals große Schwierigkeiten mit den beduinischen Kameltrainern. Die dachten, wir verletzten ihre Tiere, wenn wir Blut abnehmen. Sezieren, unerläßlich für die Forschung, konnten wir erst, als Scheich Mo eine Anordnung erließ.“

Mittlerweile haben die Wernerys bis dahin unbekannte Kamelkrankheiten entdeckt, einen obligatorischen Dopingtests für Rennkamele entwickelt. Aus regelmäßigen Blutproben von über 10 000 Kamelen erstellten sie eine sogenannte statistische Referenzliste. Mit dieser Checkliste, eine Art Kamel-TÜV, und anhand der aktuellen Blut- und Serumswerte stellt der Trainer fest, ob sein Kamel fit ist und überhaupt Sieges-chancen hat. Soweit die Theorie. In der Praxis haben Kamele auch bei passender Anzahl der Blutkörperchen und idealem Blutfarbstoff Charakter, Stolz und Willensstärke. Shahine, das berühmte Rennkamel des Finanzministers Scheich Hamdan bin Rashid al Maktoum, Scheich Mos Bruder, räumte jahrelang ausschließlich erste Preise ab. Dann kam Shahines schwarzer Tag. Sie wurde im Zieleinlauf überholt.

Shahine blieb stehen, sah sich kurz um, trabte auf die nächste Hecke zu, begann die Blätter abzuknabbern und ließ sich nie wieder dazu bewegen, an einem Rennen teilzunehmen. Shahine arbeitet nun gebärenderweise in der Zucht der Embryofarm, wo die Nahrung ebenso bekömmlich ist wie für die aktiven Rennkamele. Das Kraftfutter, dessen genaue Zusammensetzung gehütet wird wie das Coca-Cola-Rezept, besteht aus Milch, Honig, Datteln, Hafer, Gerste, Weizen und Luzerne. „Bevor wir dieses Futter gaben“, weiß Dr. Ahmed Billah, tierärztlicher Berater der königlichen Scheichfamilie, „liefen die Kamele acht Kilometer in 15 Minuten; heute brauchen sie nur mehr 13 dazu“. Der Geschwindigkeits-Weltrekord liegt derzeit bei 40 km/h über die Drei-Kilometer-Bahn.

Doch Rekorde und Siege von Sheikh Mos Kamelen sind für Ulrich Wernery nur eine sportliche Bestätigung seiner wissenschaftlichen Arbeit, mit der er sich nun an der Münchener Universität zum Kamel-Professor habilitiert. Was für Wernery zählt, ist der von ihm entwickelte Kamel-Pockenimpfstoff. Und dann ist da noch Dubca, ein Kunstwort für „Dubai Camel“. Dubca ist ein Kamelembryo, aus dem Wernery die erste lebene Zellinie eines Kamels gewann. Das beliebig vermehrbare Gewebe lagert in den USA, und Forscher können dort nach Bedarf Gewebe anfordern. Dubca selbst, kleines Souvenir, schwimmt in einem Plastikglaswürfel in Wernerys Laborregal. „Unsere Forschung“, sagt Wernery, „kommt allen zugute. Es gibt 20 Millionen Kamele auf der Welt. Dort wo das Kamel so wichtig ist wie anderswo das Hausrind, in Somalia, im Sudan, in Südamerika, dort kann man sich Forschung nicht leisten. Scheich Mo stellt unsere Ergebnisse allen zur Verfügung.“

„Qualitätskamel“ lautet ein Begriff, den man in Dubai immer wieder zu hören bekommt. Eine halbe Autostunde außerhalb der Stadt, direkt gegenüber Scheich Mos Wüstenpalast, liegt die Embryo-Farm, in der die Cambridge-Doktorandin Lulu Skidmore im Rahmen ihrer Promotion solche Qualitätskamele produziert. Die Engländerin arbeitet in einer ehemaligen Lagerhalle mit der Kamelkoppel vor der Tür. Sie kniet am Boden zwischen einem Kamel und einem Ultraschallgerät und vermißt mit dem linken Arm und dem Scanner ellbogentief im Darm des Tieres von innen den Utuerus, während sie mit der rechten Hand auf der Tastatur des Gerätes das Ultraschallbild optimiert.

Erstklassigen Rennstuten entnimmt Skidmore nach einer Woche den Embryo und friert ihn, falls gerade keine Austragemutter verfügbar ist, bei minus 196 Grad ein. „Der Vorteil ist“, erläutert die Gentechnikerin, „daß die ursprünglich befruchteten Kamele weiter Rennen laufen können. Und bald haben wir obendrein die Möglichkeit, das Geschlecht des Tieres im Labor zu bestimmen.“ Zehn Embryos liegen derzeit einsatz-bereit auf Eis.

Fragt sich der Laie, wozu diese Klonerei? „Lamel“, heißt eine weitere Antwort, eine geplante Kreuzung aus südamerikanischem Lama und Kamel. 45 Lamas schwitzen bereits neben Scheich Mos Wüstenpalast ihrer genetisch ungewißen Zukunft entgegen. „Das Lamel“, schwärmt Scheich-Berater Ahmed Billah vage, „wird schön sein. Es wird kommerziell interessant sein als besonders strapazierbares Lasttier oder besonders ergiebiger Lieferant von Kamelmilch.“ Daß man der Natur vielleicht zu sehr ins Handwerk pfusche, hält Billah für abwegig, da doch Scheich Mo die Idee fördere. Und Scheich Mo kommt für Billah vor dem lieben Gott.

Wir fahren mit Ulrich Wernery in eins der Kamelcamps in der Wüste. Zum „Lamel“ läßt er sich keinen druckbaren Kommentar abringen. Stattdessen schwärmt der Camel-Hemd-Träger, nun ganz Gourmet, wässrigen Mundes von jungen Kamelbullen. „Das Fleisch ist zart und schmeckt wie Hirsch, sehr lecker. Haben Sie’s schon mal probiert?“

Ein Arzt, der seine Patienten ißt. Sowas.


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