Tel Aviv – Vollbad in der Szene

© Erschienen in Allegra

Tel Aviv – Schnarchnasen in braunen Skailederjacken und fiesen Sandaletten sollen ruhig weiter nach Arenal fahren. Im New York des Orients wären sie ziemlich deplaziert – ganz im Gegensatz zu unserem Autor.

Eintrag ins Logbuch des Raumschiffs „Allegra“: Sind um 5.36 Uhr Erdenzeit Israel im „Planet Joe“ gelandet. Von uns bekanntem Leben keine Spur. Bestellten bei dem einzig anwesenden Organismus einen pangalaktischen Don-nergurgler à la Douglas Adams und wollten vor dem Bezahlen gerade „Beam us up, Scottie“ hochfunken – da warf die Sonne ihr schwaches Dämmerlicht übers nahe Mittelmeer. Und mit der aufgehenden Sonne füllte sich „Planet Joe“ mit Leben.

Nachtwesen mit verkehrt aufgesetzten Baseballmützen strömten herein, schwangen sich am Straßentresen zu sphärischem Techno locker auf Hocker, orderten Bier der heimischen Marke Goldstar. Ein blonder Norweger, UN-Libanon-Peacekeeper auf Israel -Urlaub, trank beim Wettschlucken schnell noch einen Australier unter die Bodenfliesen. Spock zog erstaunt die Augenbraue hoch. Eine sommersprossige Travellerin aus Wales, die ihren eigenen Namen nur mehr mit Llllillyllovillgilly oder so lallen konnte, erzählte, sie habe nur zwei Wochen bleiben wollen, nun sei sie schon sieben Monate in <<Tel>> <<Aviv>>. Etti, Studentin aus Jaffa und Thaiboxmeisterin, die mit ihrer Mutter im Clinch liegt, verzog sich gegen acht Uhr in ihren Schlafsack am Strand jenseits der S traße. Da lebt Etti schon sechs Wochen. Seltsam. Ziehen weitere Erkundungen über <<Tel>> <<Aviv>> ein. Ende des Logbucheintrags, Capt’n Kirk, Raumschiff „Allegra“. Over.

Zugegeben, alle außer Spock und Kirk waren im „Planet Joe“. Aber so hatten wir uns dort den Anfang unserer Reportage nun mal ausgedacht. Wer morgens im „Planet Joe“ strandet, im verblassenden Morgenrot den drohenden Tag erwachen sieht und die durchlebte Nacht noch auf dem Gaumen schmeckt … <<Tel>> <<Aviv>>, ihr da draußen i n den endlichen Weiten der Langeweile, macht besinnungslos kirre.

Die jungen Frauen und Männer <<Tel>> Avivs sind die schönsten der Galaxie. Schön bis zur Ohnmacht. „Walk like an Israeli“, hätten die Bang-les singen sollen anstatt über diese hatschenden Ägypter. „Jeder in der Stadt will sexy wirken“, sagen die erfolgreichen Modemacher Anne, Französin, und Shimon, Israeli, die sich in Paris bei Jean Paul Gaultier kennenlernten, heirateten und nach <<Tel>> <<Aviv>> übersiedelten. Ihre Boutique betreiben sie in der Sheinkin Street, eine Adresse, die unter Modebewußten allein schon für Kreativität bürgt. Anne & Shimons Mode ist klassisch schlicht und körperbetont, in Schwarz und in allen Grautönen. Eigentlich passe diese „Kollektion der Traurigkeit“, so Anne, 25, nicht in eine vitale Stadt, in der bodybetonte Frauen nabelfrei tragen und sich mit Plateausohlen an Größe holen, was ihnen die Natur versagte. In Anne & Shi mons Laden geht es ständig ab wie im Sommerschlußverkauf. Die Pariserin Anne wundert sich nach drei Jahren T.A. täglich neu über die Frauen. „Sie sind so tough. Sie können mit mir oft gar nichts anfangen, weil ich nicht zwei Jahre in der Armee diente und gefallene Kameraden beerdigen mußte.“

Gelobtes Land. Heiliges Land. „Von Israel“, beklagen sich junge Israelis oft, „denkt ihr in Europa doch nur, daß wir dauernd in Jerusalem unsere Köpfe gegen die Klagema uer knallen und Palästinenser jagen.“ Immer wieder Jerusalem kontra <<Tel>> <<Aviv>>. Jerusalem, die 3000 Jahre alte Tante, die biedere, die koschere, die religiöse. <<Tel>> <<Aviv>> aber – der Teen, rotzfrech, ohne Konventionen. <<Tel>> <<Aviv>>-Jaffa, wie die 400 000-Einwohner-Stadt offiziell heißt, ist das New York des Orients. Meinen die <<Tel>> Aviver. Die mediterrane Antwort auf den Big Apple – Big Orange, ein Konglomerat mit Bewohnern aus über hundertvierzig Nationen, denen der jüdische Glaube das Rech t auf die isra- elische Staatsbürgerschaft garantiert. Unzählige Kulturen und Lebensarten sind hier verschmolzen: amerikanische, mitteleuropäische, osteuropäisch-jiddische und sogar asiatische. <<Tel>> Avivs Restaurantführer liest sich wie das Register in einem Atlas.

Der Zusammenbruch des Ostblocks bescherte Israel, flächenmäßig kleiner als Hessen, seit 1989 über eine halbe Million Immigranten, zehn Prozent der heute 5,5 Millionen Israelis. Der polnische V iolinist und Absolvent des Salzburger Mozarteums, Hubert A. Pralicz, 28, geboren in Warschau, aufgewachsen in Paris und Monte Carlo, Wohnsitz Dallas, zog im Frühjahr nach <<Tel>> <<Aviv>>. Große Musiker und Dirigenten hatten ihm eine Weltkarriere prophezeit, bis er vor drei Jahren die 200 000-Dollar-Geige für immer weglegte und erst einmal durch Südamerika und den Rest der Welt reiste, um zu reden und leben zu lernen, wie 25jährige eben reden und leben.

„Meine Kindheit, meine Jug end – jede Minute gehörte der Violine. Dann landete ich in <<Tel>> <<Aviv>>. Die Stadt ist wie ein Schwamm, der einen aufsaugt. Du mußt dir hier keine Freunde suchen, sie suchen dich.“ Für Freunde hat er mittlerweile wieder weniger Zeit. Pralicz übt täglich acht Stunden Geige. „<<Tel>> <<Aviv>>„, sagt er, „ist wie eine Therapie, ein Crash-Kurs in Fun.“ Und Hebräisch lernt er auch gerade, seine achte Sprache.

Quirligste Ausgeh- und heftigste Staunacht sind der Vorabend des Sabbats und der Sabbat selbst. Er beginnt Freitag mit dem Sonnenuntergang und endet mit dem nächsten Sonnenuntergang. Orthodoxe Juden bleiben zu Hause, essen koscher, trinken Wein und dürfen keine Dinge verrichten, die nicht unbedingt lebensnotwendig sind. Auto fahren etwa, schreiben oder Fernseher einschalten. In T.A. schert sich kaum einer darum. Bei Sonnenuntergang wird in Jaffa vor einem Griechenlokal schon Sirtaki getanzt.

Sabbat mitternacht auf der Promenade am Meer, Catwalk fürs Volk. Fami lien, Liebespaare und Traveller drängeln und schieben. Schnellzeichner porträtieren Paare, Kinder und Hunde: alles, was auf Befehl stillhält. Teens verkaufen heliumgefüllte Luftballonherzen, Mickey Mäuse und Garfields. Am Strand wühlen sich Buggies – Mantas auf israelisch – dröhnend durch den Sand, PS-potente Jungs aus den Vororten. Auf der Corniche preschen Busse, wenn für Minuten alles wg. Stau zusammenbricht, über den Teer, als seien sie auf Verfolgungsjagd. T .A. ist Tempo pur, auf allen Pisten.

Die Stadt, die niemals schläft“, wirbt die Tourismusbranche ziemlich messerscharf, ohne zu verraten, wann der junge <<Tel>> Aviver denn nun wirklich schläft (wir haben’s in zehn Tagen jedenfalls nicht herausgefunden). „In und out, das geht hier so schnell. Wenn du nicht aufpaßt, ist ein Laden out, ehe du deinen Drink bezahlt hast.“ Yuval Kaspin, 38, muß es wissen. Mit dem englischen Wort flamboyant wurde er uns gleich mehrfach b eschrieben. Wir mußten erst nachschlagen. Extravagant, grell, pompös, das alles bedeutet flamboyant.

Kaspin, Liebling der Zeitungen und des Fernsehens, Kostümdesigner für Fernsehen und Theater, ein „night animal“ (Kaspin), kann es sich leisten, Mode zu kreieren, ohne auf den Kundengeschmack zu achten. Während seiner Zeit in New York eröffnete Kaspin auf der Madison Avenue zwischen den Boutiquen von Armani und Versace selbstbewußt seinen Designerladen. Der lief au ch so lange gut, wie Kaspins Schwager und Sponsor, ein Car-Wash-Millionär, die Miete übernahm. Denn eigentlich konnte sich nur Diana Ross Kaspins Lederphantasien leisten, und das auch nicht täglich.

Voller Heimweh („New York ist halt nicht <<Tel>> <<Aviv>>„) kehrte Kaspin nach T. A. zurück und galt fortan als Designerstar. In Fernseh-Shows trat er, gleichermaßen cool und eloquent, mit Zwölfmeterturban, langem Zorro-mantel und Cowboyboots auf, alles in schwarzem Leder . „Heute bin ich ruhiger“, lächelt Kaspin. „Ich unterrichte an der Modeakademie von Haifa.“ Auch Kaspins Stil als Designer ist ruhiger geworden, souveräner, aber immer noch grell und ausgefallen. Zum Foto-Shooting kleidet er sein Lieblingsmodel, eine Brasilianerin, in ein Etwas, das auf den ersten Blick aussieht wie zwei übereinandergenähte Schlabbershirts, sich aber dann als raffiniert veränderbares T-Shirt-Minikostüm-Kapuzen-teil erweist. Für nächstes Jahr wird er in T.A. die Ausstattung des Musicals „Grease“übernehmen, mehr als zweihundert verschiedene Kostüme. Ein Handy trägt Kaspin auch immer bei sich, wie alle in T.A. Die einzigen, die weder in Kneipen hängen noch an Handys, scheinen Embryos zu sein.

Kaspin lotst uns ins „Real Time“, eine Fabrikdisco in Jaffa. Es ist Schwulen- und Lesbenabend. Ein Transvestitentrio trällert Abba und verulkt Sinatra: „I did it that way, not only once on the highway.“ Teenie-Lesben knutsche n und schmusen, Männer tanzen Body an Body. Ein paar Straßenecken weiter stehen Hunderte vor dem Einlaß des „Colombarium“, einer Open-air-Bar mit drei Tanzsälen, in denen Techno, Charts und Seventies gespielt werden. Im „Colombarium“, In-Treff Nummer eins, gibt man sich bis zum frühen Morgen schick, cool und betont hetero.

Doch <<Tel>> Avivs Reiz besteht, sonst wär’s nur ein anderes Ibiza, aus mehr als Microshirts und freien Nabeln. Is-raels Schöngeister leben wie im Naturschutzreservat. Alles ist erlaubt. Je schräger und provokanter, desto besser. Als kürzlich im Premierenpublikum der Bat Sheva Dance Company, be-rühmt für ihr experimentelles Tanztheater, Premierminister Yitzhak Rabin und der Chefrabbiner saßen, stellten sich, Teil der Aufführung, neun Männer mit dem Rücken zum Publikum. Aus den Ellenbogenbewegungen zu schließen, onanierten sie fröhlich vor sich hin. Eisiges Schweigen im Theater. Erst prustete eine Zu schauerin los, dann eine andere, irgendwann hielt es auch den Premier nicht mehr. Schließlich drehten sich die neun um und fuhren fort, die Läufe ihrer Maschinengewehre zu putzen.

W ährend dieser Vorstellung überkam Oded Gera, 43, Chef des Israel Jewellery Exchange, Ex-Offizier, Ex-Wissenschaftler, Ex-Ballettänzer und schnieker Dauerdandy, eine Vision, wie er glaubt, die ihn Maler werden und sein erstes Gemälde schaffen ließ: Gera tagträumte von e inem nackten Pianospieler, der mit überdimensionaler Erektion Rachmaninow spielt. „Das Verrückte ist Lebens- elixier, besonders in dieser Stadt. Israel ist so klein, und rundum haben wir nur Wasser oder arabische Feinde. Dieser Druck muß raus, sich artikulieren.“

Als mütterliche Förderin des Exaltierten, des Genialen, des Verschrobenen engagiert sich Oded Geras Mutter Meira, eine Lady in den Sechzigern und eine Mama der forschen Muse, die uns nach nur zwei Telefonaten bei d er ersten Begegnung schon zum Küßchen links, Küßchen rechts an sich heranzieht. „Durchschnitt ist mir verhaßt“, sagt sie, Vorsitzende der Ame- rica-Israel Culture Organization, die jährlich mit zwei Millionen Dollar in allen Bereichen der Kunst – Tanz, Film, Mode, Oper, Kammermusik undundund – über sechshundert Stipendiaten finanziert.

Einer wie Reuven Cohen, 30, Pop-art-Künstler und Trash-Artist (Cohen), hätte ohne seine Förderin Gera keine Chan ce bekommen. Zum Wettbewerb um die Vergabe der Stipendien reichte er unter anderem ein Kunstwerk ein mit dem Titel „Divine’s Shit Spot“, eine gerahmte Unterhose mit braunem Fleck als Hommage an Divine. Einen Akademieabschluß hatte Cohen auch nicht. Das Vergabegremium war entsetzt. Aber Meira Gera drückte Cohen durch, „weil in ihm Kraft, Mut und Kreativität stecken“.

Heute produziert Cohen groß-flächige Gemälde, auf die er Figuren, oft Transvestiten und Androgyne, auf klebt und aufschraubt. Drei angesehene israelische Künstlerpreise hat er auch schon gewonnen. „Ich wüßte keine andere Stadt, die soviel Platz für Subkulturen läßt.“ Doch Cohen sieht T.A. nicht nur in den schillernden Farben seiner Pop-art. „Die jungen Leute reden miteinander, aber sie kommunizieren nicht wirklich. <<Tel>> <<Aviv>> mit seiner Schnellebigkeit, seiner Dynamik, von der ich auch lebe, ist ein Turm zu Babel des MTV-Zeitalters. Ich meine das auch in puncto Beziehungen. Für junge Männer ist es schwer, ein männliches Image zu entwickeln, weil die Frauen nach der Armee chauvinistischer sind als die meisten Männer.“ Cohen selbst ist schwul.

Seltene kritische Töne in einer erst auf den zweiten Blick sterilen Stadt, in der man kein Leid sieht, keine Not, tagsüber kaum Bettler (sie stöbern erst nachts auf dem Gemüsemarkt nach Abfällen). Im Norden liegt an der Dizengoff Street das „Hamisbaah“, eine Bar, in der man nach Mitternacht Seitenspringer und Sugardaddys auf den Tischen tanzen sieht, wenn die Sängerin Daphne Whitney Houston nachahmt. Vor der Tür selektiert Alex, ein Russe, die Gäste. Afrikaner müssen draußen bleiben, weil der Besitzer sie nicht mag. Vorsorglich trägt Alex eine Pistole, falls ein Afrikaner ihn deswegen nicht mag.

Am Tresen des „Hamisbaah“ bedient Anat Luzon. Die 23jährige jobbt hier fünfmal die Woche von 23 bis 6 Uhr, vormittags erledigt sie die Buchhaltung der B ar, dazwischen studiert sie BWL. Anat kam aus einem Dorf im Süden Israels nach <<Tel>> <<Aviv>>. „Hier zu leben, wenn du kein Geld hast“, sagt sie, „ist wie Marathonschwimmen ohne Begleitboot und Rettungsringe. Du mußt dich immer verstellen, immer top spielen, dich sexy anziehen, immer sexy sein. Ich tu’s auch, aber ich fühle mich schlecht dabei, weil ich es nur tun muß, um zu bestehen.“ Anat, sagen wir, du könntest doch auch näher an deinem Heimatsort studieren? „Nein, nein“, winkt sie rasch ab. „Die Stadt hier verlangt zwar zu viel von einem. Aber weg will ich erst, wenn ich weiß, daß ich hier durchkomme.“ C’est l’Aviv!

„Diese Stadt ist ein Crash-Kurs in Fun“


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